Der agile Wandel sorgt für flexiblere, kundenzentriertere, vielleicht sogar werteorientiertere Unternehmen. Ach ja? Ein paar ungemütliche Gedanken zum ungeliebten Thema Macht.
Oft sind es beiläufige Begebenheiten, die eine große Wirkung auf uns haben. Erfahrungen, Begegnungen, Sätze, die uns im aktuellen Moment unerheblich erscheinen und dann doch nachhallen und langsam zu wirken beginnen. So erging es mir, als meine liebe Kollegin Carolin vor einiger Zeit in einem netten Gespräch über Gott und die Welt ganz nebenbei sagte: „Ach, ihr Agilisten blendet das Thema Macht doch völlig aus.“
Für einen kurzen Moment fühlte ich mich sportlich herausgefordert. Dann aber dachte ich mir, dass Carolin vermutlich zu wenig über Agilität weiß. Macht wird in agilen Arbeitsrahmen nämlich durchaus behandelt und der Umgang mit ihr sogar ziemlich eindeutig geklärt. So sah ich das damals. Und so sehe ich das auch heute. Richtig gemacht, sorgt Agilität schließlich dafür, dass Rollen entweder klar definiert werden (z.B. Scrum), oder zumindest möglichst offen diskutiert (z.B. Kanban): Wer entscheidet worüber? Wann? Für mich ist das einer der größten Vorteile, den agile Ansätze überhaupt haben. Denn so werden Statusrangeleien effektiv und pragmatisch ausgehebelt, die in hierarchischen Organisationen bekanntlich sehr verlässlich verhindern, dass schnell und fokussiert gut gehandelt wird. „Wir warten noch auf das OK vom Chef“ – in agilen Teams ist damit (weitgehend) Schluss. /1/2/
So oder so ähnlich rechtfertigte ich mir und selbstverständlich auch Carolin gegenüber dann auch, weshalb Macht eben kein blinder Fleck sei. Nicht für die Agilität allgemein. Nicht für überzeugte Agilisten. Und schon gar nicht für einen agilen Profi wie mich. Basta. Die Sache war damit erledigt. Und schon drehte sich das Gespräch um andere Dinge.
Auge(n) zu und durch?
- Was sagt denn nun Agilität und mit ihr die agile Szene zu Fragen der Macht in Organisationen, darüber, wie große Richtungsentscheidungen der Organisationen getroffen werden?
- Wie stehen Agilität und agile Profis dazu? Wie sehen ihre Antworten aus?
- Zum Beispiel auf die Frage, wie man seine Chefs denn nun dazu bekommt, selbst auch agiler heranzugehen, statt immer noch z.B. Ampelreports für die laufenden Projekte einzufordern oder ständig ad-hoc-Änderungen vorzunehmen?
- Wissen wir überhaupt allgemein genug über Macht, ihre Strukturen und ihre Dynamik?
- Inwiefern nutzen wir dieses Wissen?
- Wie gehen agile Berater, Coaches, Change Agents, Scrum Master, Product Owner grundsätzlich und konkret in Ihrer Arbeit mit Macht um?
Mein bisheriges Zwischenfazit, etwas ernüchtert: Gut möglich, dass wir uns bislang eher wenig bis oberflächlich um diese Fragen kümmern. Und wenn, dann eher einseitig. Eben in Hinblick darauf, dass gefälligst reibungslos, zielgerichtet und vor allem: schnell akzeptable Ergebnisse produziert werden. Das ist sicherlich nicht schlecht. Doch reicht das? Ist es das, was wir wollen? Sind das unsere (einzigen) Ansprüche?
Es muss sich etwas in unseren Organisationen ändern!
Die Zeiten werden immer unsicherer, wir treffen auf immer komplexere Herausforderungen, die wir immer weniger absehen können! Mit unseren bisherigen Mitteln stoßen wir an Grenzen! Unsere hierarchisch geführten Organisationen arbeiten zu langsam, zu schwerfällig, am Bedarf vorbei! Sie werden zur Gefahr! Also brauchen wir schnellere, transparentere, durchlässigere, flexiblere, eben: agilere Strukturen. Damit wir gemeinsam, immer wieder und schnell wichtige Entwicklungen erkennen und koordiniert (re) agieren können!
Leanansätze und Agilität mit ihren Prinzipien und ihrem gnadenlosen Fokus auf die Wertschöpfung sind die Rettung!
Das zumindest tragen wir gerne so oder so ähnlich mit großer Überzeugung vor.
Was hat ein Auge, zwei Daumen und ist einfach nur super?
Doch etwas genauer betrachtet, kann da irgendetwas nicht ganz stimmen. Wenn unsere Diagnose zutreffend ist und wenn Agilität klassischen Organisationensformen wirklich überlegen ist: Wieso arbeiten nicht schon längst sehr viel mehr Unternehmen und sonstige Organisationen nach Lean-Maßstäben oder agil? Weshalb hat es – siebzig Jahre nach Lean und vierzig Jahre nach Scrum! – noch immer keinen organisatorischen Durchmarsch gegeben? /3/ Weshalb bleiben so viele hoffnungsvoll und mit Elan gestartete agile Veränderungsvorhaben und Lean-Initiativen auf halber Strecke liegen – obwohl wir doch als Experten oft selbst daran beteiligt sind?
Wäre es nicht unsere Aufgabe, uns als überzeugte und professionelle agile Organisations-Empiriker genau diese Fragen immer und immer wieder zu stellen: Haben wir eigentlich das erreicht, was zu erreichen war? Und wenn nein, warum nicht? Was ist anders zu tun? Was können/müssen wir verbessern? /4/
Solchen kritischen Fragen geht der Lean-Consultant Bob Emiliani schonungslos offen in seinem Buch „The Triumph of classical Management over Lean“ nach./5/
Die Fragen und Punkte, die er aufwirft, sind schmerzhaft unbequem. Sie gefährden das Erfolgs- und Überlegenheitsnarrativ und vielleicht auch das ein oder andere gefällige Selbstbild: Was sagt es über uns, unsere Expertise und die Qualität unserer Arbeit aus, wenn wir es bisher nicht geschafft haben, Lean und Agile breit zu promoten und zu etablieren?
Dabei geht es um alles andere als um Anklage oder Selbstanklage. Viel wichtiger ist es, die Gründe zu finden, damit wir unsere Arbeit besser machen können. Also: Bringt’s Lean und Agile vielleicht doch nicht so, wie wir glauben und behaupten (sicher nicht!)? Oder vermitteln wir es nur nicht gut genug (auf keinen Fall!)? Warum aber sind dann agile Initiativen so zäh?
Warum bleibt also der durchschlagende, breite Erfolg aus? Was übersehen wir?
Raus aus der Schonhaltung!
Vielleicht, dass wir – bewusst oder unbewusst – unangenehme Erkenntnisse vermeiden? Zum Beispiel, dass es für einen erfolgreichen agilen Wandel nicht allein reicht, agile Strukturen in den Umsetzungsteams zu etablieren, zu optimieren und gute Arbeitsergebnisse zu erzielen? Dass es notwendig ist, sich mit professionellem Sachverstand und Lust in die Niederungen der meist sehr geschichtsträchtigen konfliktreichen, statusverminten, angstbesetzten Beziehungsarbeit zu stürzen (und damit eben auch intensiv mit dem Management zu arbeiten)?
Dass dabei vor allem auch die sichtbare und unsichtbare Politik in Organisationen mitzubedenken und mitzubearbeiten ist? Anders gesagt: Dass neben dem ABC agiler Methodik eben auch das Regelwerk der Macht auswendig zu lernen und zu spielen ist (Igitt!)?/6/
Wenn wir jedoch die Augen davor verschließen, sollten wir es zumindest bewusst machen und uns die Konsequenzen klar machen: Wir haben zwar hocheffizienten Teams und Unternehmen geholfen, mit den Mitteln der Agilität noch effizienter Dinge zu erledigen („Doing twice the work in half the time.“).
Doch weil in der immer komplexeren Welt, in der wir uns wähnen (s.o.) Effizienz meist sogar sehr ungut wirkt, könnte dieser Schuss nach hinten losgehen. Denn Organisationen sind dadurch vielleicht noch mehr von der Frage abgelenkt, ob sie auch tatsächlich die richtigen Dinge tun./7/
„Ach, ihr Agilisten blendet das Thema Macht doch völlig aus.“
Ja, gut möglich, dass viele agile Enthusiasten und Praktiker Macht als Thema ausblenden oder unterschätzen und sich stattdessen lieber ausschließlich auf’s Tun stürzen, auf Strukturen, Tools, Methodisches./7/ Ich zumindest gestehe: Ich bin gefährdet.
Sicher ist jedenfalls, dass wir uns damit – wohlgemerkt in bester Absicht – selbst ein wirksames und vielleicht sogar entscheidendes Mittel für unsere Arbeit nehmen. Ebenso klar ist, dass wir damit unsere gewillten Klienten im Regen stehen lassen und den organisatorischen Status Quo eher noch zementieren. Obwohl wir ihn doch eigentlich zum Guten verändern sollen und wollen.
Die nächste Initiative, die ins Leere läuft. Ist das unser Anspruch?
Anmerkungen
- /1/ Die gute, alte Lean-Schule halt: Vermeiden von Waste (Überflüssigem). Siehe: Rother, Mike: Die Kata des Weltmarktführers. Toyotas Erfolgsmethoden. Frankfurt am Main, 2013. Oder: Senge, Peter M.: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart, 2011.
- /2/ Und, ja, natürlich ist hier noch hinzuzufügen: Das alles geschieht, so gut es eben geht. Im so genannten agilen Change – und auch im sonstigen Geschäftsalltag – kommt es nämlich natürlicherweise und zwansläufig zu „hybriden“ Strukturen. Also dazu, dass hierarchische und agile Strukturen parallel existieren.
- /3/ Zumindest eine New-Work-Revolution könnte man doch erwarten.
- /4/ Gut möglich auch, dass wir an dieser Stelle hinter unsere eigenen professionellen Erwartungen zurückfallen. Seit nunmehr 14 Jahren können wir im jährlich erscheinenden „State of Agile-Report“ nachlesen, was keine große Überraschung sein dürfte, nämlich, dass „general organization resistance to change“ und die mangelnde Unterstützung des Managements und der Führungskräfte als größten Hindernisse für den agilen Change gesehen wird. Was brauchen wir noch, um zu erkennen, dass wir für eine höhere Erfolgsquote wohl besser genau in diesen Etagen ansetzen?
- /5/ Das kommt allerdings nicht überall in der Szene gut an – das Schicksal der Whistleblower. Ein für eine prinzipienverliebte Szene allerdings eher peinlicher Vorgang.
- /6/ Um in Bob Emilianis Worten zu sprechen: Wir haben das „Management Playbook“ zu kennen, zu erkennen und uns danach auszurichten. Mit anderen Worten: Wir haben bis zu einem gewissen Grad auch das politische Spiel zu spielen, um einem echten Wandel zumindest eine Change zu geben.
- /7/ Für nähere Hintergründe hierfür siehe vor allem Dave Snowdens Ausführungen in „The Cynefin-Framework.“ (Youtube-Video): www.youtube.com/watch?v=N7oz366X0. Wer gerne knöcheltief (oder noch tiefer) durch Themen watet, kann sich auch dieses Buch reinpfeifen: Taleb, Nassim Nicholas: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München, 2013. Gut auch: Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München, 2013.
- /8/ Oder – das andere Extrem – abgehobenere, philosophischere oder spirituellere Themen.
Literatur, Links & Weiterführendes*
- Carolin Auner: www.carolin-auner.de
- Bob Emiliani: bobemiliani.com
- Scrum@Scale: www.scrumatscale.com
- 14th annual State of Agile Report. Hrg. von. Digital.ai Software, Inc. o.O., o.J.: https://explore.digital.ai/state-of-agile/14th-annual-state-of-agile-report
- Das Agile Manifest: agilemanifesto.org/
- ***Ameln, Falko von; Heintel, Peter: Macht in Organisationen. Denkwerkzeuge für Führung, Beratung und Change Management. Stuttgart, 2016.
- ***Emiliani, Bob: The Triumph of Classical Management Over Lean Management. How Tradition Prevails and what to Do about it. O.O, 2018.
- **Emiliani, Bob: Irrational Institutions: Business, Its Leaders, and The Lean Movement. South Kingstown, 2020
- Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main, 1976.
- Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin, 1978.
- Gallup-Studie: State of Global Workplace: https://www.gallup.com/workplace/238079/state-global-workplace-2017.aspx
- Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München, 2013.
- Han, Byung-Chui: Was ist Macht? Stuttgart, 2005.
- Heffernan, Margaret: Uncharted. How to Map the Future. New York, 2020.
- **Heffernan, Margaret: Wilful Blindness. Why we ignore the obvious. London, 2011.
- Heiler, Stephan; Borck, Gebhard: Chef sein? Lieber was bewegen! Warum wir keine Führungskräfte mehr brauchen. O.O., 2018.
- Kotter, John P.: Accelerate. Building Strategic Agility for a Faster-Moving World. Boston, 2014.
- Laloux, Frederic: Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations. Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brussels, 2014.
- List, Stephan: Lebenszyklen in der Beratung. Zuerst veröffentlicht am 18.1.2006. Nochmals veröffentlicht im Blopost „Agilität un