Donnerstag, der 16. September 2021

Und, läuft’s? Oder: „Agilität ist nur was für Projekte.“


Agil organisierte Unternehmen scheinen heute das Rennen zu machen. Wieso sind wir nicht schon längst alle so organisiert?



Kürzlich kam ich auf einer Konferenz

mit einer freundlichen Teilnehmerin ins Gespräch. Agilität, sagte sie, fände sie persönlich ansprechend, interessant und sympathisch. Für das, was sie und ihre Abteilung hauptsächlich machen, bedauerte sie, kämen agile Ansätze aber nicht infrage.

Denn bei ihnen in der Abteilung gehe es schließlich nur darum, routiniert eher gleichförmige Aufgaben abzuarbeiten. Für die Projekte, in denen sie teilweise auch mitarbeite, würde sie Agilität sehr begrüßen, für ihre Abteilung nicht.



Obwohl ich natürlich oft mit dem Missverständnis konfrontiert bin

Agilität sei nur etwas für Projekte, gestehe ich, dass ich jedes mal aufs Neue ein wenig ratlos bin. Was soll ich tun? Soll ich argumentieren?

Soll ich sagen, dass es doch gerade die nicht regelmäßig überprüften Denk- und Handlungsmuster sind, eben die festgefahrenen, unbewussten Routinen, die Teams, Abteilungen und ganze Unternehmungen generell und heutzutage besonders in Schwierigkeiten bringen, ja sogar bedrohen?

Denn sie lullen ein und wiegen in einer Sicherheit, die es nicht gibt.


Gerade diese Routinen sind es doch, die dem Wettbewerber Riesenchancen eröffnen.

Soll ich also sagen, dass doch gerade bei den Routinen Agilität besonders wirksam und wichtig ist, weil es agilen Teams darum geht, sich immer wieder und wieder zu fragen, ob sie noch das Richtige tun, ob sie noch gut genug sind, also: ob die Routinen noch stimmen?

Soll ich das tun?


Besser nicht. Wer will schon missioniert werden?

Schließlich haben wir alle das Recht, unseren eigenen Weg zu finden und unsere eigenen Erfahrungen zu machen (inklusive der manchmal abenteuerlichen Fehltritte, die es dazu braucht).

Also hielt ich mich auch dieses Mal zurück. Auch wenn es mir auch dieses Mal schwerfiel. (Es wird mit jedem Mal einfacher).


Jeder agile Arbeitsrahmen

sei es Lean Startup, Design Thinking, DevOps, Kanban, Scrum usw. folgt demselben grundlegenden empirischen, erfahrungsbasierten Organisationsprinzip (und derselben Wertschöpfungs-Philosophie): In überschaubaren Schritten, wiederkehrend und ausgerichtet auf ein großes Ziel:

  1. planen
  2. tun
  3. auswerten
  4. anpassen./1/

Genau genommen handelt es sich dabei um das universelle, evolutionäre Lern- und (Über-) Lebensprinzip, das jeder von uns seit der ersten Sekunde seines Lebens kennt – spätestens seit dem ersten Griff auf die heiße Herdplatte.


Agilität überträgt dieses Lern-Prinzip konsequent

auf die Organisation gemeinschaftlicher Aufgaben. Das tut jeder agile Arbeitsrahmen auf seine Weise, mit bestimmten Schwerpunkten und mit bestimmten Zielen.

Alle verbindet aber – und hier unterscheiden sie sich fundamental von jenen vorherrschenden hierarchischen Strukturen und Organisationsprinzipien, die sich im Maschinen- und Produktionszeitalter des letzten Jahrhunderts herausgebildet hatten -, dass alle Arbeitsrahmen das gemeinschaftliche Element als Grundbedingung in den Vordergrund stellen.

Und zwar nicht etwa, weil Agilisten die besseren Menschen sind (was noch zu beweisen wäre) oder sich etwa diese Art der Zusammenarbeit besser anfühlt (was schon bewiesen ist). Sondern schlicht deshalb, weil es auch im nun angebrochenen Dienstleistungszeitalter darum geht die Wertschöpfung (=pekunärer und/oder sonstiger Profit) zu optimieren („Maximum outcome, minimal waste.“).

Und dafür braucht es eben andere Herangehensweisen als bisher.


Im Agilen werden deshalb stets

und konsequent so viele Betroffene wie möglich (z.B. Kunden) zu Beteiligten gemacht (Entscheidung über Wertschöpfung, Verantwortung, Motivation). Dafür wird ihnen ein struktureller Rahmen gegeben (finanziell, organisatorisch, thematisch, kreativ, visionär etc.), indem sie sich in bestimmten Rhythmen immer wieder (respektvoll und auf Augenhöhe) selbstorganisiert über das Was, das Wie, den aktuellen Stand und die nächsten konkreten Schritte austauschen (Feedback).

So werden auf eine organisatorisch maximal schnelle, flexible und scheinbar nebenbei wertschätzende und motivationsfördernde Art nach und nach Ergebnisse erarbeitet, die möglichst alle möglichst zufriedenstellen.

(Und wenn dies nicht gelingt, lassen sich Fehlentwicklungen verhältnismäßig leicht und zügig korrigieren.)


Doch obwohl jeder von uns das oben genannte Lernprinzip

buchstäblich in seiner eigenen DNA trägt, obwohl jeder von uns heute eine sehr große Expertise darin hat, wie man sich gut organisiert,/3/ obwohl die Erfolge und Vorteile agiler Unternehmen heute für uns alle sicht- und erlebbar sind, und obwohl es bei uns hingegen immer öfter nicht mehr ganz so rund läuft, langsamer, komplizierter, unflexibler, selbstbezogener, nerviger, konfliktreicher etc., trotz alledem also, tun wir uns schwer damit, den naheliegenden, den agilen Schritt zu gehen.

Wieso? 


Es spricht viel dafür

dass wir (wie so manches Mal) Opfer eines allzu menschlichen Verhaltensmusters sind:/4/ Trotz vieler warnender Anzeichen und vorhandener verstandesmäßiger Einsicht fehlen uns noch immer (für uns) gute, überzeugende motivatorische Gründe, fehlt der echte, der eigene Druck, uns vom bestehenden, aber auslaufenden organisatorischen Erfolgsmodell des letzten Jahrhunderts zu lösen.

Was für jeden Einzelnen von uns schon schwierig genug ist, wird in der Gruppe nicht eben leichter. („Passt schon noch.“, „Hat ja bisher alles gut funktioniert!“, „Das wird schon.“)/4/


Das Erfolgsmodell sah vor

strukturelle und routinierte Stabilität anzustreben. So erforderten das die damaligen Umstände.

Also setzte man auf Arbeitsteilung (Silos) und auf Management („Command und Control“), auf maximal effiziente, routinierte und standardisierte Abläufe („Best Practice“), auf die Expertise und Stärke des Einzelnen („Spezialistentum“, „Auf dich kommt es an!“) und auf extrinsische Motivatoren (Boni, Existenzangst).


Bis zur Jahrtausendwende hat das ökonomisch bestens funktioniert

(bei der Ökologie sieht es allem Anschein nach wohl anders aus) und war deshalb auch lange Zeit sehr erwünscht.

Heute aber entwickelt sich diese Form der Unternehmensführung gar nicht mal so langsam zu einem relativ großen strukturellen Risiko, das Organisationen in ihrer Gesamtheit existentiell bedrohen kann (und das auch gerne tut).

Denn anders als damals haben wir es heute mit viel unsteteren Zeiten und veränderten Umwelten zu tun. Komplexität und Schnelllebigkeit sind hier nur zwei, wenngleich auch besonders große Herausforderungen für Organisationen.

Es lassen sich hier aber mühelos eine Vielzahl anderer Themen hinzufügen, die sich ähnlich rasant bis radikal entwickeln:

  • Ausdifferenzierung der Märkte (Subkulturen),
  • Beschäftigungskrise und Gendershift in der Arbeitswelt (demographischer Wandel),
  • Autoritätswandel,
  • Generationen- und Motivationskluft („Wegfall des Patriachats“, „Generation X, Y, Z“),
  • Demokratiekrise inklusiver der Neuordnung von nationalen und internationalen Staatssystemen,
  • Und – sicherlich nicht zu GUTER-letzt: die unsichere und unvorhersehbare Umwelt- und Klimaentwicklung.

Wohlgemerkt: All das sind keine ‚g’spinnerten‘ Zukunftsprognosen.

Es sind heutige Phänomene, die uns alle (!) heute betreffen und denen wir uns alle (!) auch heute zu stellen haben. Heute heißt: Jetzt. Jeden Tag.


Ob uns das mit den bisherigen organisatorischen Mitteln gelingt? Fraglich.

Albert Einstein soll einmal gesagt haben, man könne die Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden seien. Es spricht einiges dafür, dass dies auch für Organisationsweisen gilt.

Warum also organisieren wir uns nicht schon längst anders? Läuft’s noch gut genug? Oder wird es nicht doch Zeit, dass wir, jede und jeder für sich vielleicht erst einmal, die Dinge anders angehen?



Anmerkungen

  • /1/ Siehe auch: Deming-Kreis, z.B. hier auf Wikipedia
  • /2/ Warum? Weil über die Wertschöpfung einer Dienstleistung anders, von anderen und an anderen Stellen entschieden wird als über die Wertschöpfung eines Produkts. Hauptsächlich also deshalb, weil der Push-Ansatz nicht mehr so zuverlässig funktioniert ist wie früher.
  • /3/ Vermutlich durch die unzähligen Restrukturierungs- und Effizienzprogramme der letzten Dekaden.
  • /4/ „Dies drückt sich in der Tendenz der meisten Menschen aus, weiterzumachen wie bisher, selbst wenn Veränderungen ihnen durchaus Vorteile bringen würden. Den Grund für dieses scheinbar irrationalen Beharrungsvermögen haben wir genannt: Ein Weitermachen wie bisher trägt eine starke Belohnung in sich als Lust an der Routine, am Expertentum, am Statusbewahren. Hinzu kommt die Angst vor dem Neuen, das immer auch das Risiko des Scheiterns in sich birgt. Dies erzeugt bei vielen Menschen eine hohe Schwelle, welche der Belohnungswert der Veränderungen des eigenen Verhaltens überwinden muss.“ Gerhard Roth (s.u.).
  • /4/ Sie auch:  Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek, 2007.

Literatur

  • Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek, 2007.
  • Kotter, John P.: Accelerate. Building Strategic Agility for a Faster-Moving World. Boston, 2014.
  • Roth, Gerhard: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart, 2011.
  • Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg, 2007.
  • Verhaeghe, Paul: Autorität und Verantwortung. München, 2016.