Donnerstag, der 1. Juli 2021

Fördert Agilität die Selbstausbeutung?


Agile Strukturen sind Hierarchien heute oft voraus. Sie sind schneller, flexibler, besser. Das liegt vor allem daran, dass sich Teams selbst organisieren, was Menschen dazu bringt, sich mehr einzubringen und mehr und anders Verantwortung zu übernehmen. Doch befördert das nicht die Selbstausbeutung? Ist Agilität in Wirklichkeit eine Form moderner Sklaverei?



Den Vorwurf höre ich oft

Agilität sei nichts weiter als ein übler Trick, der Menschen und Teams nur dazu bringen soll, sich noch mehr selbst auszubeuten. Mein Kollege, Wolf Steinbrecher, hatte sich vor einiger Zeit im Teamworkblog sehr nachvollziehbar mit dieser Frage auseinandergesetzt.

Seine Antwort damals: Nein. Das Gegenteil sei der Fall.

Denn erstens handele es sich bei dem, was wir landläufig Selbstausbeutung nennen, in Wirklichkeit um Ausbeutung. Zweitens schaffe Agilität bewusst und mit Ansage Strukturen, um ebendiese Ausbeutung zu verhindern.



Der Grund hierfür liegt

im Lean-geprägten agilen Mindset, das Verschwendung und Verluste nach Möglichkeit überall, also auf allen organisatorischen Ebenen permanent einzudämmen versucht – was im Endeffekt das Geheimnis des agilen Erfolgs ist:

  1. Mura – „Unausgeglichenheit“
  2. Muri – „Überlastung“
  3. Muda – „Verschwendung“

Nimmt man es genau

dann bedeutet Selbst-Ausbeutung, dass Menschen selbst und freiwillig (!) entscheiden, sich auszubeuten oder sich ausbeuten zu lassen. Also zusätzliche Dinge zu tun, ohne dass sie etwas davon haben.

Doch wie ist das, wenn wir auf Urlaub oder Freizeit verzichten, unbezahlte Überstunden schieben, rund um die Uhr erreichbar sind etc.? Tun wir das wirklich freiwillig?


Wahrscheinlicher dürfte sein

dass wir das bewusst oder unbewusst tun, weil wir uns dazu gezwungen, zumindest aber gedrängt fühlen – aus welchen Gründen auch immer. Zum Beispiel, weil wir denken, dass „man“ das von uns verlangen kann, aus Angst vor Status- oder Jobverlust oder schlicht, weil automatische Stressmuster greifen.

Wenn aber Zwang der Grund für unser Tun ist, handelt es sich eben nicht um Selbstausbeutung. Sondern um Ausbeutung.


Wat mut, dat mut?

Dass wir trotzdem von Selbstausbeutung sprechen, ist folgerichtig und psycho-logisch. Denn Ausbeutung ist in unserer Leistungskultur tief verwurzelt: Anerkennung (Liebe, Lob, gute Noten, Zeit, Geld, Job, Karriere etc.) bekommen wir heute (fast) ausschließlich gegen Leistung.

Von Kindesbeinen lernen wir: Wir werden belohnt, wenn wir tun, was man uns sagt.


Das ist für uns ein normales und selbstverständliches Lebensprinzip

auch wenn wir in immer mehr Lebensbereichen andere Erfahrungen machen können, z.B. in heutigen Eltern-Kind-Beziehungen.

Das zeigt, dass das zwanghafte Leistungsprinzip eben keine Naturgewalt ist. Sondern im Gegenteil bislang recht zielgerichtet forciert wurde und wird. Und das schon sehr lange.

Weil wir aber von einem freien Willen in einer freien Welt ausgehen heißt das, dass wir dieses (zwanghafte) Leistungsmodell für uns auch aus freien Stücken akzeptieren. Wir entscheiden uns ja selbst (!) dafür, also für diese Art von „Ausbeutung“. Wir könnten es ja auch z.B. ablehnen.


In der Arbeitswelt und meist auch im Selbstmanagement

folgen deshalb die allermeisten von uns jeden Tag aufs Neue dem klassischen, hierarchischen, also tendenziell rigiden, autoritär-patriarchalischen Bild davon, wie es zu laufen hat:

Weil sie (oder wir) das dürfen oder gar müssen, setzen Mitglieder einer Organisation andere Mitglieder ihrer eigenen oder auch anderer Organisationen unter Druck, um sie zu Dingen zu bewegen, die sie (mutmaßlich) von sich aus nicht getan hätten.


Das geschieht in der Regel

unbewusst und unreflektiert, aktiv und passiv. Mal also sind wir diejenigen, die einfordern, mal lassen wir zu, dass man uns drängt – alle Sandwichmanager unter uns wissen, was das heißt.

Dass es auch anders laufen kann, kommt uns selten in den Sinn. Obwohl wir immer öfter mit diesem Prinzip an Grenzen stoßen, z.B. wenn wir unzufrieden werden oder zu langsam zu schlechte Ergebnisse produzieren.

Genau das aber ist der Grund, warum agile Arbeitsrahmen wie Scrum und Kanban anders vorgehen.


Manager kontrollieren oder befehlen hier nicht.

Sondern sie führen im allerbesten Sinne.  Sie machen also klar, was die Unternehmens- und/oder Projektziele sind und sorgen für gute Rahmenbedingungen für die Umsetzungsteams.

Die Teams und ihre Fachexperten wiederum entscheiden dann über die Umsetzung: Welche Aufgabe hat welche Priorität? Wann wird welche Aufgabe erledigt? Wer macht das?

Es soll so wenig Management wie möglich gemacht werden. Und wenn, dann dort, wo es wertschöpfend ist und Sinn macht. Vor allem also in den Umsetzungsteams. Sie sollen schließlich pünktlich jene Ergebnisse liefern, die man gemeinsam vereinbart hat.

(Man kann übrigens zurecht fragen, was daran neu und anders sein soll im Vergleich zur klassischen Managementlehre. Die Antwort ist: Wenig. Agilität setzt jetzt aber organisatorisch das um, was wir schon seit vielen Dekaden wissen.)


„Wo kämen wir denn da hin…?“

Ständig werden dafür die Erwartungen synchronisiert und wenn nötig Rollen und Entscheidungshierarchien angepasst. Denn je nach Rolle, Aufgabe und Verantwortungsbereich darf und muss (!) jedes Teammitglied selbst und/oder gemeinsam im Team entscheiden, was wann wie be- und abgearbeitet wird.

Deshalb achtet Agilität auf die „Souveränität“ der Teammitglieder: Wer entscheiden soll, muss seinen Entscheidungsspielraum kennen und braucht dafür Entscheidungsgewalt. Nur so funktioniert das Pull-statt-Push-Prinzip.


Agil zu arbeiten, bedeutet positiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten

und vor allem auch entsprechende Strukturen dafür zu schaffen. Zum Beispiel indem überflüssige Kontrollstrukturen abgeschafft werden. Dadurch werden organisatorische Freiräume geschaffen, Potenziale gehoben und der Blick auf die Wertschöpfung freigelegt, also auf jene Dinge, die den Kunden und die Investoren interessieren.

Misstrauensgeprägte hierarchischen Organisationsformen haben naturgemäß Schwierigkeiten, dies nachzuvollziehen.


In agilen Strukturen sind Menschen aber

Experten, die auf Augenhöhe arbeiten. Also: Diesmal wirklich. Und nicht nur wie bisher nur für die Imagebroschüre.

Denn ihre Aufgabe ist, sich maximal einzubringen. Als Fachleute und auch als Prozessexperten ihrer eigenen Arbeit, die nicht nur ihren eigenen Fachbereich im Blick haben, sondern auch für das große Ganze denken. Auch in organisatorischen Belange.

Das ist natürlich auch wertschätzend und motivierend. Aus organisatorischer Sicht ist es vor allem aber schlau.

Denn so können die Fachleute machen, was ihnen in hierarchischen Strukturen aufgrund eines bürokratischen (z.B. Reportings) und organisatorischen (z.B. Meetings) Überbaus erschwert wird: Ihre eigentliche Arbeit erledigen. Und zwar dann, wenn es am besten und sinnvollsten ist.

Und zudem so organisiert, dass es gut für sie, die Ergebnisse und das Team ist.

Und das eben nicht als Aufgabe des/der Einzelnen, sondern als Entscheidung, die im Rahmen eines geordneten und getakteten Prozess gemeinsam durch das Team gefällt wird. Und zum Team gehört auch das Management und/oder der Auftraggeber.


Fördert agiles Arbeiten also Ausbeutung oder gar Selbstausbeutung?

Es ist nicht auszuschließen, und in unserer Leistungskultur halte ich es sogar für naheliegend, dass agiles Arbeiten dafür missbraucht wird. Trotzdem:

Es widerspricht allem, was mit agilen Strukturen bezweckt und erreicht werden soll.

Für agiles Arbeiten braucht es ein klares, offenes und angstfreies Umfeld. Es braucht selbstbewusste Menschen, die im Team gute Ergebnisse produzieren wollen und deshalb gemeinsam lernen wollen und dies auch tun. Fehler, Konflikte und Missstände werden hier regelmäßig gut und zielgerichtet behandelt.

Heißt also: Wo dies – aus vielleicht auch unbewusster Haltung heraus, also aus Prinzip (!) – nicht geschieht, wo also Menschen stets auch nur tendenziell unter Druck und Angst arbeiten, in diesem Sinne also „ausgebeutet“ werden oder sich vielleicht auf diese Art auch selbst ausbeuten, wird schlicht nicht agil gearbeitet.

Es ist wichtig zu erkennen, dass dieser Zustand der Selbstausbeutung kein Naturphänomen ist. Es liegt an uns das zu ändern.

Wir können das ändern. Allerdings nur, wenn wir uns – selbst – dazu entscheiden.



Literatur & Links