Verantwortung zu übernehmen ist in unserer Gesellschaft sehr angesehen und steht entsprechend hoch im Kurs. Doch was, wenn diese eigentlich gute Sache sich ins Gegenteil verkehrt? Ein Interview mit meiner Kollegin und Freundin, der Psychiaterin und Autorin Dagmar Ruhwandl.
Liebe Dagmar, du bist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutin. Da kann man ja schon ein bisschen überrascht sein, dass du dich mit dem Thema Verantwortung beschäftigst. Macht Verantwortung zu übernehmen denn krank?
Dagmar: Verantwortung übernehmen ist eigentlich eine wundervolle Sache. Ob im Kleinen, zum Beispiel beim Kochen eines Mittagessens für die ganze Familie oder im Großen, wie bei der Übernahme eine Führungsposition in einem Unternehmen: In vielen Bereichen macht Verantwortung Freude, motiviert uns und lässt uns wachsen. Verantwortung macht uns frei, weil sie eine zentrale Quelle von Selbstwert und Selbstvertrauen bedeutet. Wenn aber für zu lange Zeit zu viel oder die falsche Verantwortung auf uns lastet, kann sie körperlich und psychisch negative Folgen für uns haben.
Was sind das für Folgen? Mit welchen Beschwerden kommen die Menschen zu dir?
Häufig kommen Patienten, nachdem der Körper sich meldet. Symptome können sein: Herzrasen, Magen-Darm-Beschwerden, Spannungskopfschmerzen, Dauer-Rückenschmerzen durch Muskelverspannungen, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit. Wenn aus Verantwortung Überforderung wird, wenn das System kippt, entwickeln auch Menschen, die viel Kraft haben, gerne Verantwortung übernehmen und immer viel leisten konnten, depressive Symptome, werden energie- und antriebslos und sehen keinen Sinn mehr in dem, was sie tun.
Das bedeutet sicherlich, dass die Betroffenen sehr darunter leiden. Trotzdem berichtest du in deinem Buch, dass betroffene Menschen im Durchschnitt lange acht Jahre warten, bis sie sich an einen Arzt oder Therapeuten wenden. Das muss ja aber sicherlich nicht sein. Wie können wir bemerken, dass es brenzlig wird und wir uns Hilfe holen sollten?
Frühwarnsignale sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Aber es gibt ein paar Symptome, die man schon früh bemerken kann und Verhaltensweisen, die man beobachten sollte. Dazu gehört zum Beispiel, sich zu fragen, wieviel Leidenschaft man in eine Tätigkeit – sei es beruflich oder privat – steckt und wann diese beginnt, einen einzuschränken. Wenn wir zum Beispiel mit Leidenschaft an einem beruflichen Projekt arbeiten, aber merken, dass wir deswegen seit längerer Zeit andere Leidenschaften vernachlässigen, wie z.B. Sport, Hobbys, nahe Freunde, sollten wir innehalten. Auch wenn wir es nicht mehr schaffen oder immer schwerer finden, nach Belastungen wieder zur Ruhe zu kommen, sollte das ein Warnsignal sein.
Du sagtest, dass es auch falsche Verantwortung gibt. Wie kann ich die von der richtigen unterscheiden?
Das ist gar nicht so einfach. Zuerst sollte man versuchen, zu verstehen, warum man begonnen hat, viel Verantwortung zu übernehmen. Häufig beginnt das schon im Kindes- oder Jugendalter! Menschen, die beispielsweise ein Elternteil hatten, der depressiv oder alkoholkrank war, neigen dazu, sich über ihre Grenzen hinaus und in einer Art Verantwortung aufzubürden, die nicht ihrer Lebenssituation entspricht. Hat zum Beispiel ein Mann als Kind immer für seine depressive Mutter den Haushalt geführt und soziale Kontakte gepflegt, so wird er als Erwachsener leichter dazu neigen, auch hier für andere über die Maßen Verantwortung zu übernehmen. Als Kind war er mit dieser Verantwortung völlig überfordert, denn sie war für ein Kind viel zu umfangreich und falsch, sie entsprach nicht seinen Fähigkeiten. Es gab aber kein Entkommen, und so fühlte es sich irgendwann „normal“ an. Das ist der Grund, warum es ihm im weiteren Leben so schwer fällt, zu unterscheiden, ob die Verantwortung, die er übernimmt, jetzt angemessen ist oder nicht.
Die eigenen Kindheitserfahrungen mit sich und der Umwelt spielen also eine entscheidende Rolle. Es gibt da aber noch eine andere Sache, die du in deinem Buch aufgreifst und die mich überrascht hat: Das Übertragen von Traumata, Angst- und vielleicht sogar anderen Reaktionsmustern über Generationen hinweg! Bedeutet das, dass ich das Verantwortungsgefühl meiner Vorfahren in mir trage und mich entsprechend verhalte?
Es ist zumindest recht wahrscheinlich, dass sich Verantwortungsmuster über Generationen quasi vererben. Besonders sichtbar wird dies oft in Unternehmerfamilien oder in Familien, in denen seit Generationen ein Beruf von vielen geteilt wird, wie zum Beispiel Ärzte- oder Juristenfamilien. Wenn das zu uns und unserer individuellen Persönlichkeit passt: Kein Problem! Dann kann man seine Erfüllung in der Übernahme der gleichen Verantwortung wie der Großvater, die Mutter oder der Onkel sogar auf eine besonders passende Weise finden. Wenn man aber aus welchen Gründen auch immer aus einem anderen Holz geschnitzt ist, kann man sich damit immens überfordern.
Du beleuchtest in deinem Buch zwar natürlich die medizinischen und psychischen Aspekte. Gleichzeitig verknüpfst du sie stark mit philosophischen Aspekten. Wie kommt das?
Da wage ich mich auf ein Gebiet, das ich als Ärztin natürlich eher erahne als verstehe. Ich habe aber in meinen Recherchen festgestellt, dass Aspekte der Verantwortung schon seit Jahrtausenden einen wesentlichen Einfluss auf unser Leben nehmen und dass vor allem Philosophen und Theologen dazu schon sehr lange hervorragende Gedanken entwickeln, die aber auch, was die Übernahme von Verantwortung anbelangt, zum Teil große Anforderungen an uns stellen.
Als Ärztin, Expertin für Burnout und Fachfrau für betriebliche Gesundheit begleitest und hilfst du schon lange Menschen und Organisationen, die sich in überfordernden Situationen befinden oder sich davor schützen wollen. Hast du den Eindruck, dass der Druck auf Einzelne und Firmen heute zunimmt? Dass sich die Art und Weise, wie wir Verantwortung übernehmen und damit umgehen, heute ändert im Vergleich zu früher?
Ich hatte eigentlich gehofft, dass die Reaktion der Gesellschaft und der Unternehmen auf die “Burnout-Welle” der früher 2000er Jahre schneller erfolgen wird. Ich war immer sehr optimistisch, dass sich die Überforderung des Einzelnen durch Maßnahmen in Unternehmen rascher auflösen wird. Da scheine ich ein bisschen zu viel erhofft zu haben. Denn bislang sehe ich noch keine wesentliche Veränderung. Was ich am ehesten beobachte, ist eine ungleichere Verteilung von Verantwortung – und auch von anderen Ressourcen – auf die einzelnen Beteiligten. Es gibt nach meiner Wahrnehmung immer mehr Menschen, die Verantwortung eher nicht, und Einzelne, die dafür immer größere Mengen an Verantwortung tragen müssen.
Und dennoch greifst du in deinem Buch die Veränderung der Organisationsstrukturen und Arbeitswelten allgemein auf, die hier und da ja doch sehr spürbar sind und mich und meine KollegInnen in meiner Arbeit ja auch oft beschäftigen. Wie siehst du diese Bestrebungen? Können sie helfen, die Hoffnung auf eine gleichmäßigere, gesündere Verteilung von Verantwortung zumindest ein Stück weit zu erfüllen?
Leitung, damit auch diese Menschen von Agilität profitieren können.
Liebe Dagmar, danke für deine Zeit und das Gespräch!
Literatur
- Ruhwandl, Dagmar: Vom Glück, Verantwortung zu teilen. Leben ohne Überforderung.
- Ruhwandl, Dagmar: Erfolgreich ohne auszubrennen. Das Burnout-Buch für Frauen.
- Ruhwandl, Dagmar: Top im Job – ohne Burnout durchs Arbeitsleben.
- Bode, Sabine: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation.
- Rodehack, Edgar: Burnout im Unternehmen? Nix wie ran!
- Rodehack, Edgar: Vor einem Burnout? Mittendrin? Was tun?